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leere zeit manifest

LEERE ZEIT
Unsere Gesellschaft misst einer leeren Zeit, also einer Zeit, in der scheinbar nichts Sinnvolles getan wird und in der man als nicht produktiv gilt, keinen Wert zu. Wir haben permanent zu funktionieren, Selbst-Optimierungen vorzunehmen, während wir uns gleichzeitig einem grenzenlosen und immer rascher ablaufenden Informationsfluss aussetzen. Nichts wird bei unserer Einübung und Einspeisung in den Rhythmus der globalen Infra- und Produktionsstruktur dabei dem Zufall überlassen. Sogar der Schlaf, lange Zeit der einzige nicht kontrollierbare Rückzugsort vor den Zwängen des Kapitalismus, wird mehr und mehr zu einem Märchen aus längst vergangenen Zeiten.

Auch die Bauernfamilien im Bschlabertal kannten in den letzten Jahrhunderten keine leere Zeit. Ihre Zeit im Hochtal war mit arbeitsintensiven Tagen, mit den überlieferten Wochen- und Jahreszyklen erschöpfend ausgefüllt. Erst mit Beginn der Technisierung, der Mobilität, der Erwerbsarbeit und der damit einhergehenden Abwanderung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts kam es zu vermehrter Leere im Tal – durch das Verlassen der Wohnhäuser, durch das Aufgeben von traditionellen Arbeits- und Kommunikationsräumen und durch das Einsparen von ehemals überlebensnotwendiger Arbeitszeit.

Die Kunst stellt seit jeher im Leben eine Grenzzone dar, die den Zufall, den Zerfall und die Leere zu sich einlädt. Sich einer leeren Zeit auszusetzen, kann zur Quelle von Inspiration werden. Leer werden kann heißen: loslassen, unterbrechen, Einspruch erheben, auflösen, umkehren. Leere Zeit kann begriffen werden als ein Aussetzen der Arbeit zur Erprobung eines anderen Alltags, oder ein Aussetzen des Alltags, um eine andere Arbeit zu erproben.

Kann leere Zeit einen Möglichkeitsraum eröffnen, um neue Formen von (Care-, Kunst-, etc.) Tätigkeiten und von Beziehungsweisen auszuprobieren? Kommt leere Zeit ohne Handlungsziel aus? Ist die leere Zeit nicht immer schon voller Splitter unserer Menschheitsgeschichte? Wie können eine leere Zeit und der Leerstand im Bschlabertal miteinander korrespondieren? Und habe ich persönlich Angst vor einer leeren Zeit?

Leer: ursprüngliche Bedeutung aus der Sphäre des Ackerbaus: abgeräumt, nichts enthaltend, abgeerntet.
Zeit: althochdeutsch: teilen, Abgeteiltes.

Andreas Pronegg
Material:
Eva von Redecker: Revolution für das Leben
Walter Benjamin: Philosophie der neuen Protestformen
Über den Begriff der Geschichte medienfrische.com