Lebt man in einem kleinen Ort wie Boden, so fragt man sich zumindest einmal im Leben, ob man bleiben oder gehen soll. Es ist eine schwerwiegende und für das eigene Leben entscheidende Frage: SOLL ICH BLEIBEN ODER SOLL ICH GEHEN?
Gehen heißt nicht nur, die Beschaffenheit meines Bodens zu testen, auf dem ich lebe, ich lese gleichsam das mich umgebende Territorium mit meinem Körper. Gehen, weggehen, einen Weg gehen bedeutet auch: meinen Standpunkt zu wechseln, meine sichere Position zu verlassen, Grenzen zu überschreiten, Neuland zu erkunden, mich und meine Umwelt Schritt für Schritt neu zu erfinden. Der Aufstand beginnt als Spaziergang.
Im flüchtigen Akt des Gehens erforsche und verändere ich vorgefundene Situationen, Räume und Beziehungen, ich überschreite Handlungsgrenzen. Gehen als Kunst ist Beispiel einer radikalen Ästhetik, die sich auf die elementarste Körpertechnik des Menschen besinnt. Der hinkende Ödipus (wörtlich: Schwellfuß) löst das Rätsel der vierbeinigen Sphinx, welches Tier im Laufe des Tages seine Gangart wechseln kann. Der Anthropos (der Entgegengewendete) baut seine motorische Basis unentwegt um, er verwendet technische Hilfsmittel, um seine körperliche Beschaffenheit, Verortung und Orientierung und damit seine Stellung in der Welt zu reflektieren und radikal zu verändern.
Kann das Gehen als künstlerische Praxis mir einen Weg eröffnen, wegzugehen und doch in Boden zu bleiben? Welche Möglichkeiten erschließen technologische Entwicklungen Menschen mit Beeinträchtigung, um neue (performative) Handlungsräume zu entwerfen? Welche zukünftigen, gemeinschaftlichen Spielformen halten Neue Medien bereit, um fortgehend die soziale und politische Beschaffenheit eines abgeschiedenen Ortes wie Boden zu untersuchen?
Inspiriert von künstlerischen Praktiken und wissenschaftlichen Forschungen wie jenen von z.B. Yvonne Rainer, Trisha Brown, Janet Cardiff, Marina Abramović, Richard Long, Bruce Nauman, Rebecca Solnit, Walter Benjamin, dem Dada-Ausflug von 1921, der Situationistischen Internationalen, The Ministry of Silly Walks, etc. suchen wir zeitgenössische, interdisziplinäre Projekte und Entwürfe, die einem alpinen Bergdorf wie Boden einen gesellschaftlichen Zukunfts- und Spielraum eröffnen, in dem ich mich dazu entschließen kann: GEHEN UM ZU BLEIBEN.
A.P.